BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

GRÜNE Eimsbüttel

Selbstbestimmtes Leben bis zuletzt – warum ich eine neue progressive Regelung zur Suizidhilfe für richtig gehalten hätte

06.07.23 –

Am 26. Februar 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regeln rund um die Sterbehilfe in Deutschland für verfassungswidrig. Das Gericht stellte klar, dass jeder Mensch in Deutschland ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben hat. Till Steffen, unser Eimsbüttler Bundestagsabgeordneter, hielt diese Entscheidung für fundamental richtig. Dennoch besteht große Handlungsunsicherheit bei allen Beteiligten, da es nach diesem Urteil bisher keine Neuregelung der aktiven Sterbehilfe gibt und daher Menschen mit Sterbewunsch sehr häufig nicht die Hilfe erhalten, die ihnen zusteht. Somit war es gut, dass nun endlich zwei Gesetzesentwürfe, ein progressiver und ein konservativer, bezüglich einer Neuregelung vorlagen und der Bundestag über diese entscheiden konnte. Jedoch setzte sich letztendlich keiner der beiden Entwürfe durch.

Warum ich für den progressiven Entwurf gestimmt habe
Der konservative Entwurf von Lars Castellucci (SPD) hätte, bis auf wenige Ausnahmen, ein umfassendes und grundsätzliches Verbot der Suizidhilfe zur Folge gehabt. Ich persönlich hielt dies für den falschen Weg, denn das Bundesverfassungsgericht stellt ganz klar fest, dass es ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben gibt. Es wären daher viele Menschen mit dauerhaftem und ernsthaftem Sterbewunsch bevormundet und in ihrem Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben verletzt worden. Ich hielt es für durchaus denkbar, dass, wenn der konservative Entwurf sich durchgesetzt hätte, dieser abermals vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden wäre. Daher schloss ich mich meinen Kolleginnen Renate Künast (BÜNDNIS 90/Die Grünen) und Katrin Helling-Plahr (FDP) an. In unserem gemeinsamen progressiven Entwurf wollten wir das Recht auf selbstbestimmtes Sterben absichern und die Rahmenbedingungen schaffen, um die Inanspruchnahme von Suizidhilfe gesetzlich klar zu regeln. Wir wollten selbstbestimmt Handelnden die Möglichkeit eröffnen, nach einer qualifizierten Beratung und einer Bedenkzeit, Zugang zu entsprechenden Medikamenten zu bekommen, um selbstbestimmt zu sterben – wie durch das Bundesverfassungsgericht vorgegeben. Daher habe ich ihn unterstützt.

Wie hätte das zukünftige Vorgehen bei Sterbewunsch ausgesehen?
Nach langen Beratungen und unzähligen Gesprächen mit Sachverständigen entschieden wir uns für folgendes Vorgehen, wenn eine Person ihrem Leben ein Ende setzen will. Zunächst hätten wir eine obligatorische Beratung in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle vorgesehen. Diese Beratungsstellen sollten niederschwellig und unentgeltlich bundesweit erreichbar sein. Die Beratung hätte ergebnisoffen geführt werden müssen und nicht bevormundend. Es hätte festgestellt werden müssen, dass die suizidwillige Person über die Fähigkeit verfügt, einen freien Willen zu bilden und dass sie die Trageweite ihrer Entscheidung vollumfänglich überblicken kann. Sie hätte über Handlungsalternativen aufgeklärt werden müssen und die Entscheidung hätte nicht durch äußeren Drück bedingt sein dürfen. Sie hätte im Gegenteil intrinsisch gereift sein müssen und somit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Ernsthaftigkeit geprägt sein müssen. Anschließend hätte eine Warte- und Bedenkzeit von drei Wochen eingehalten werden müssen. Nach dieser Zeit hätte dann im Regelfall die Ärztin oder der Arzt des Vertrauens der sterbewilligen Person ein Mittel zur Selbsttötung verschreiben können. Wir sind der tiefen Überzeugung, dass das besondere und teilweise lang gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Patienten den notwendigen Rahmen dargestellt hätte, um mit Empathie und Kompetenz über eine Verschreibung der Medikation zur Selbsttötung zu entscheiden. Kein Arzt und keine Ärztin hätte jedoch verpflichtet werden können, eine solche Verschreibung vorzunehmen.

Was haben wir zum Thema Suizidhilfe verabschiedet?
Auch wenn ich es sehr bedaure, dass unser Gesetzesentwurf zur Suizidhilfe keine Mehrheit gefunden hat, ist gut, dass wir den Antrag „Suizidprävention stärken“ verabschieden konnten. Das tabufreie Sprechen über den Suizid ist Grundlage der Prävention. Für viele Menschen mit Suizidgedanken und für deren Angehörige ist es nicht leicht, sich Hilfe zu suchen bzw. zu finden, da diese oft nicht ausreichend verfügbar ist. Betroffene haben zudem angesichts der Tabuisierung Angst vor Stigmatisierung, wenn sie offen über ihre Suizidgedanken sprechen. Entscheidend ist der niedrigschwellige Zugang zu Hilfsangeboten. Daher fordern wir als Deutscher Bundestag die Bundesregierung unter anderem auf, bis zum 31. Januar 2024 dem Bundestag ein Konzept vorzulegen, wie bestehende Strukturen und Angebote der Suizidprävention zeitnah unterstützt werden können. Weiterhin fordern wir, dass bis zum 30. Juni 2024 ein Gesetzentwurf und eine Strategie für Suizidprävention vorzulegen ist, mit denen die Maßnahmen und Akteure koordiniert und eine dauerhafte sowie zeitnahe Umsetzung sichergestellt werden kann.

Abschließende Gedanken zum Thema
Suizide sind Realität. Wir dürfen als Gesellschaft nicht wegschauen und Sterbewillige allein lassen. Die progressive Neuregelung hätte den autonom gebildeten freien Willen des/der Einzelnen in den Mittelpunkt gestellt und ihn mit staatlichen Schutzmaßnahmen flankiert. Gleichzeitig hätten wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eingehalten und das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben abgesichert. Ich bedaure sehr, dass unser Gesetzentwurf nicht die Mehrheit gefunden hat. Gleichzeitig ist es gut, dass es keine erneute Regelung im Strafrecht geben wird. Daher betrachte ich das heutige Abstimmungsergebnis mit gemischten Gefühlen. Es bleibt jetzt beim Status Quo: Eine gesetzliche Regelung zur Suizidhilfe mit all den Ungewissheiten, die dies für Ärztinnen und Ärzte, Helferinnen und Helfer und insbesondere Menschen mit einem Sterbewunsch mit sich bringt, wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Weiterhin lassen wir Menschen in dieser schwierigen Lebenssituation ohne irgendwelche Leitplanken alleine. Daher müssen wir weiter an einer Lösung arbeiten, die sowohl sterbewilligen Menschen ihr Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben einräumt, als auch professionellem medizinischem Personal eine Rechtssicherheit gibt. Solltet ihr Fragen und Anmerkungen zu diesem Thema haben, freue ich mich auf eure Rückmeldungen.

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